Solidarität

Am 27.03.2022 fand ein von der Seebrücke Würzburg veranstaltetes Zusammentreffen statt, auf welchem Beiträge kundgegeben wurden.
An dieser Stelle möchten wir den Redebeitrag von HERMINE e.V., vorgetragen von Nick Heß, anbringen und unseren Dank an die Seebrücke Würzburg aussprechen.

Ich heiße Nick und möchte heute ein paar meiner Gedanken zum Begriff der Solidarität mit euch teilen. Mein Einsatz bei HERMINE e.V. währt noch nicht allzu lange und viele Themen sind mir immer noch neu. Daher habe ich mich auch gefragt, was dieser Begriff, Solidarität, eigentlich bedeutet. Dieser Vortrag möchte eine Annäherung an einen Begriff der Solidarität wagen, der als grenzenlos verstanden werden möchte.

Zunächst fällt es vielleicht leichter, den Begriff negativ zu bestimmen und zu fragen, was nicht unter Solidarität zu verstehen ist. Mal ganz abgesehen von Dingen wie Gewalt, Terror oder Ausbeutung, bei denen wir uns sofort einig wären, möchte ich den Fokus auf Dinge lenken, die zwar mit Solidarität in Zusammenhang gebracht werden, sie aber nicht ganz ausfüllen:

Erstens ist Solidarität kein Ausdruck von Mitleid oder verpflichtenden Mitgefühls. Diese Art von Beziehungen sind immer asymmetrisch zu Gunsten einer von zwei Seiten. Die eine Seite wird als schlecht oder bedürftig wahrgenommen, der eine besser versorgte Seite gegenübergestellt wird. So wird nicht nur eine symbolische, sondern auch eine materielle Abhängigkeit hergestellt, die es den verantwortlichen öffentlichen Institutionen ermöglicht, sich aus der Problematik herauszuziehen, da andere ihre Arbeit machen. Die Moria-Komplex Studie ist hierfür beispielgebend. Solidarität, in diesem Sinne verstanden, würde sich lediglich auf eine offene Rechnung reduzieren, die es zu begleichen gilt, egal von wem. Wenn wir aber Solidarität als grenzenlos umsetzen wollen, muss dringend eine verantwortungsvolle Übersetzung aus dem privaten in den öffentlichen und politischen Bereich der Gesellschaft geschehen, um gemeinsam Strukturen zu schaffen, die die Probleme lösen und nicht vertagen.

Zweitens, ist Solidarität auch keine Form von Altruismus, d.h. keine selbstlose Denk- und Handlungsweise. Menschen, die sich solidarisieren sind nicht interesselos. Sie handeln aber auch nicht egoistisch. Sie sind lediglich davon überzeugt, ihre eigenen Interessen im Kontext mit den Interessen anderer wahrnehmen zu wollen. Sie haben erkannt, dass es in dieser globalisierten Welt, egal an welchem Ort sie sich befinden, nicht möglich ist, sich außerhalb der Gesellschaft aufzuhalten. Jede soziale Interaktion hinterlässt zumindest über Umwege ihre Spuren im Rest der Welt.

Drittens, und das wird einige vielleicht stören, ist Solidarität auch nicht Ausdruck der eigentlichen und wahren Bedeutung von so etwas wie Menschlichkeit. Solidarität ist nicht naturgewachsen, sondern erfordert aktives Entscheiden und Handeln und tritt ausschließlich in der Ausübung sozialer Interaktion zu Tage. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Solidarität ist nichts, was Menschen aufgrund eines höheren Bildungsstandes sich aneignen oder aufgrund eines Defizits desselben nicht erkennen können; auch wenn Bildung eine ganz entscheidende Rolle spielt! Solidarität entspringt nicht einer wie auch immer gearteten menschlichen Wesensart mit naturgegebenen Gaben, die es lediglich zu erkennen und fördern gilt.

Eine solche Auffassung von Solidarität würde sich einer Denkart bedienen, die Menschen in Kategorien unterteilt, anhand des Maßes, wie nah oder fern sie sich zu einer ihr außenstehenden Wahrheit bewegen. Eine Sorte Mensch, die es verstehen, sich zu solidarisieren und eine andere Sorte, die es nicht verstehen. Es ist aber genau dieses Denken, das die Grundlage für Kategorisierungen von Menschen überhaupt bildet und dafür sorgt, dass sich Menschen getrennt voneinander wahrnehmen. Bezüglich Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sozialer Anschauung, ethnischer und sozialer Herkunft.

Um einer grenzenlosen Bedeutung von Solidarität gerecht zu werden, und ich denke, dass Solidarität nur so funktionieren kann, muss genau dieses Denken, das Menschen in Kategorien und Wesensarten unterteilt, überwunden werden. Solange ein „Wir“ der Menschheit entworfen wird, dem ein dazu in Kontrast stehendes „Ihr“ oder „Diese da“, eine falsche Sorte Mensch, entgegengestellt wird, kann Solidarität immer nur ein Kampfbegriff bleiben, der sich letztlich selbst verneint und ohnmächtig bleibt.

Mein erster Versuch, um mich einem grenzenlosen Begriff von Solidarität anzunähern:

Wir solidarisieren uns mit den Menschen, mit denen wir uns identifizieren können. Aber was bedeutet Identifizierung? Heißt es schlicht, sich auf die gleiche Seite zu stellen und denselben Feind zu bekämpfen, mit dessen Inhalten wir uns nicht identifizieren können? Oder entspringt es am Ende doch nur einer ganz persönlichen Motivation und Bedürfnisbefriedigung, auf der Suche nach dem wahren Kern unseres individuellen Selbst?

Ich denke nicht. Dafür bringen Menschen zu viele Opfer, um sich dazu noch mit mitunter absolut fremden Menschen zu solidarisieren, wenn sie überhaupt in Kontakt mit ihnen stehen. Die Identifikation im Akt der Solidarität übersteigt die eigenen Interessen, ja, überwindet diese sogar und stellt Menschen in einen gemeinsamen Handlungsraum, die sich gar nicht kennen und sehen müssen, um handlungsfähig werden zu können.

Diese Identifikation bezieht sich auf eine Idee, eine Utopie, einen Traum, die jeweils nicht nur für eine individuelle Lebensführung erreicht und angeeignet werden möchten, sondern den Vorstellungen und Bedürfnissen aller Menschen gleichermaßen entsprechen können.

Ein Leben frei von Schmerz und Leid:

Die Beziehung zwischen sich solidarisierenden Menschen darf demnach keine asymmetrische sein, innerhalb derer sich ungleiche Seiten herausbilden, die es nur anzugleichen gilt. Vielmehr sollte eine symmetrische Beziehung zwischen Menschen angestrebt werden, um sich auf einer gemeinsamen Ebene der Handlung zu begegnen und zu versuchen, eine Veränderung, oder besser gesagt: eine Neubeschreibung mit allen Beteiligten zu unternehmen. Eine Neubeschreibung der Lebensumstände, die alle Menschen gleichermaßen und unvermittelt betreffen.

Anhand der aktuellen Ereignisse in der Ukraine sehen wir, dass diese Art von Solidarität wohl funktioniert, sich aber offensichtlich noch nicht auf alle Menschen bezieht. Unter den bisherigen 3 Millionen flüchtenden Menschen befinden sich auch solche, denen aufgrund diverser Kategorisierungen, wie Hautfarbe oder ethnischer Herkunft, der akute Schutz für ihr Leben verwehrt wird, während weiße Europäer:innen mit offenen Armen empfangen werden. Wie ist das möglich? Was lässt diesen Willen zur Solidarität in den Menschen plötzlich erkalten?

Haben sie es nicht verstanden? Sind sie zu beschränkt oder tragen sie das Böse in sich?

Ich denke nicht, dass der Mangel an Solidarität in irgendeiner Weise mit den moralischen Kompetenzen dieser Menschen erklärbar wird.

Ich denke vielmehr, dass es so etwas, wie eine Geschichtlichkeit gibt, die jedem Menschen seine Spielräume und Grenzen vorgibt. Wir alle tragen unser Paket mit uns herum, unterhalten einen gewissen Wortschatz an Wissen und Ideen, mit denen wir uns unsere Wirklichkeit erschließen und definieren und aus denen wir auch nicht spontan heraustreten können. So haben viele Menschen aus westlich geprägten Ländern beispielsweise eine Idee davon verinnerlicht, was Europa oder Europäisch-Sein bedeutet. Weiß, privilegiert in vielerlei Hinsicht, christlich-konservativ, trotzdem aber auch liberal, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht. Auch wenn sie mal mehr, mal weniger eingehalten werden, haben freiheitliche Werte grundsätzlich Raum in einer Vorstellung von Europa.

Was in dieser Vorstellung fehlt oder in Vergessenheit gerät, sind Eindrücke, die hinter diesem europäischen Raum liegen. Beispielsweise: Schwarz und muslimisch sein, oder was es bedeutet, unter Diktaturen und prekären Versorgungsverhältnissen aufgewachsen zu sein. Es gäbe noch vieles andere und je weiter die Ideen von uns aus im sogenannten Nahen Osten liegen, desto lückenhafter sind sie. Aber selbst in unserem europäischen Alltag sind wir nicht frei von diesen Lücken unseres Verständnisses gegenüber anderen Menschen, selbst wenn sie unter ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen sind.

Ich denke, es sind genau diese Lücken, die dazu führen, dass sich Menschen getrennt voneinander und als fremd wahrnehmen. Dazu werden gesellschaftliche Strukturen, Institutionen und Denkmuster, unterhalten und ausgebaut, die solche Lücken fördern bzw. aus einer Zeit stammen, in der auf solche Lücken noch gar nicht geachtet wurde. „All the lonely people, where do they all come from?“. Und genau das ist unsere Geschichtlichkeit, mit der wir uns konfrontiert sehen und auseinandersetzen müssen. Ich denke, wir können sehr froh sein, dass wir nach nicht einmal 100 Jahren nach zwei Weltkriegen wieder so weitreichende soziale Strukturen entwickeln und verinnerlichen konnten, die es uns ermöglichen, uns mit Menschen benachbarter Länder zu solidarisieren.

Heute liegt es an uns, diese Lücken ein wenig mehr zu schließen und das soziale Netz, in dem Menschen sich als ein „Wir“ identifizieren können, zu erweitern. Das kostet Zeit und hängt von vielen Faktoren ab, die wir nicht kontrollieren. Das Zauberwort für diesen Prozess ist nach wie vor Bildung!

Abschließen zusammengefasst, möchte ich mich für einen Begriff der grenzenlosen Solidarität aussprechen, der in zweifacher Hinsicht als grenzenlos zu verstehen ist:

Grenzenlos einmal, weil Solidarität, zumindest ideal gedacht, vor nichts und niemandem Halt machen darf. Wir müssen es schaffen, alle Menschen, unabhängig von der Rolle, die sie in diesem Prozess spielen, abzuholen. Das heißt nicht, dass wir jegliches Handeln gutgeheißen dürfen. Wir müssen aber auch versuchen, alle als Teil unserer gemeinsamen Geschichtlichkeit zu erfassen, um sie auch gemeinsam bewältigen zu können. Andernfalls werden wir wieder und wieder neue Randgruppen reproduzieren, die sich als fremd zum Rest wahrnehmen. Das ist schwierig, schmerzhaft und scheint endlos.

Zum anderen ist dieser Solidaritätsbegriff als grenzenlos zu verstehen, weil er aus gerade diesem Grund auch nie abschließbar sein wird. Solidarität entsteht und zerfällt, wird untergraben oder vergessen und muss daher immer wieder neu unternommen, vergegenwärtigt und mit den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten aktualisiert werden. Habt Mut dazu und lasst euch nicht durch die ewigen Wiederholungen ermüden. Ein Ende ist zwar nicht in Sicht, dafür zählt jeder Moment absolut!

Es ist ein versöhnlicher Begriff von Solidarität, der sich durch das Erkennen unserer einzig möglichen, nämlich der gemeinsamen Arbeit an unserer aller Lebensgrundlagen, auszeichnet, und der es anstrebt, ohne Feindbilder und den daraus resultierenden Randgruppen zu funktionieren.