Liebe Familie, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen
Ich schreibe Euch diesen Brief, um Euch ein Bild zu vermitteln von unserer letzten Fahrt nach Bihac. Und um eine kleine Bitte zu formulieren. Dazu später mehr.
Kurz erklärt:
Bihac liegt im Nordwesten von Bosnien-Herzegowina (BiH). Hierher hat sich die „Balkan Route“ verlagert nachdem Ungarn die Grenze mit Mauern und tödlichen NATO-Zäunen dicht gemacht hat.
Ich wurde im Herbst 2019 auf die Situation in BiH aufmerksam und konnte bald Kontakt zu Helfenden aus Deutschland und BiH herstellen. Im Herbst und Sommer 2019 lebten beispielsweise ca 1000 Menschen auf einer alten Müllkippe. Dazu dieser Bericht:
https://www1.wdr.de/nachrichten/fluechtlinge/fluechtlingscamp-vucjak-bosnien-100.html Dirk Planert, der im Bericht zu Wort kommt, konnte ich in Bihac treffen. Er hat mit einer Gruppe bosnischer Freunde*innen die Nichtregierungsorganisation SOS-Bihac gegründet. Heute wurde mir die Nachricht übermittelt, dass SOS-Bihac von den bosnischen Behörden als Organisation der humanitären Hilfe und „Rettungsorganisation“ anerkannt wurde. Der traurige Ort des Geschehens, das „Camp Vucjak“, wurde inzwischen geschlossen, die Menschen leben nun verteilt in den Städten der Region. Von hier aus versuchen sie immer wieder, die kroatische Grenze zu überwinden. Meistens werden sie aber brutal „zum Umkehren“ gezwungen.
Ein besonderes Detail, auf das auch wir während unseres Aufenthalts in BiH immer wieder stießen: Die EU-Grenzpolizisten nehmen den Menschen die Jacken, Schlafsäcke und Schuhe weg, um sie vor ihren Augen zu verbrennen. Die Menschen werden so gezwungen, zu frieren, denn in den Bergen zwischen Bihac und Kroatien liegt Schnee, es herrschen Temperaturen bis -15 Grad!
Wie ihr wisst, sind wir am 21. Februar an der HERMINE-Lagerhalle in Würzburg mit „unserem“ Opel Vivaro gestartet. Wir, das waren Julie-Michelle Brustmann (Gründungsmitglied mFH, Studierende der sozialen Arbeit), Irmi Stark (Ärztin, tätig an einem Krankenhaus), Benni (Studierender der Vermessungstechnik) und ich, Jonas (Musiker, Leiter WiMu e.V.).
Julie, Benni und ich konnten in den letzten Jahren verschiedenste Erfahrungen machen und die Thematik „Flucht, People on the run (por)“ ist uns sehr vertraut. So blickt Julie auf viele Hilfsfahrten zurück, Bennie, Julie und ich waren bereits 2016 in einem Camp in Griechenland, ich habe beruflich und privat unzählbare, teilweise sehr enge Kontakte zu Menschen, die ihre Flucht nach Deutschland geführt hat.
Wir wussten also, worauf wir uns einließen. Dachten wir…
So luden wir am 21. Februar die zahlreichen Sachspenden in die Autos. Nach einer durchgefahrenen Nacht kamen wir in den Morgenstunden des 22. September in Bihac an und schliefen erstmal einige Stunden.
Ausgeschlafen und motiviert ging es gegen Mittag zunächst zu Fuß los, denn die Sachspenden konnten wir erst gegen Abend in einem Lager von SOS-Bihac unterbringen, sortieren und einsatzbereit machen. Nachdem wir uns mit inländischen SIM-Karten versorgt und so eine der wichtigsten Grundlagen der Arbeit vor Ort gelegt hatten, konnten wir an zwei Orten, an denen Geflüchtete unter schwierigen Bedingungen zu leben gezwungen waren (Bau- und Kriegsruinen oder ähnliche zu Unterkünften umgebaute „lost spaces“), unsere Tätigkeiten der nächsten Tage vorbereiten. Wir kamen in Kontakt mit Sprachmittlern aus den Gruppen der „por“ und versuchten festzustellen, was die dringendsten Bedarfe waren.
Schlafstelle, Gang und Kochstelle im Spot „Fabrik“
Schnell war klar, was wir in den nächsten Tagen liefern würden: Nahrungsmittel, Kleidung, Schuhe und in Einzelfällen medizinische Beratung. Und immer wieder einen Handschlag, ein freundliches Wort und ein bisschen Zeit für ein kurzes „Gespräch“.
Wir teilten uns oft in zwei Teams auf um möglichst effektiv arbeiten zu können. So auch gleich zu Beginn: Während das eine Team die Sachspenden auslud, im Verbund mit vor Ort bereits vorhandenen Spenden einlagerte und einen Überblick über die Verfügbarkeit und Menge verschiedener Posten erlangte, skizzierte das andere Team die „Spots“ und verschaffte uns so einen sehr genauen Überblick über Lage der Räume in den Ruinen und die Anzahl der dort anwesenden Menschen.
Diese Erfassung machte deutlich, dass sich die Zahl derer, die auf dem Weg in Sicherheit und Zukunft in Bihac pausieren, im Vergleich zu Januar verfünffacht, im Verlauf unseres Aufenthalts erneut um ein Drittel erhöht hatten. Nicht auszudenken, wie sich die Lage vor Ort entwickelt, wenn dieser Trend anhält bzw. durch die aktuellen Entwicklungen noch verschärft wird.
Medizinischer Rat von Dr. Irmi Stark Der erste Einkauf wird sortiert und verladen und in einen kleineren Spot, das „Altenheim“ geliefert.
Es war uns unmöglich alles zu schaffen, was wir uns vorgenommen hatten. Einkaufen, sortieren und ausliefern. In Dauerschleife. Zwischendurch die Locals unterstützen, Kontakte knüpfen, Auto reparieren… In der ersten Woche, haben wir über eine Tonne Mehl, über eine Tonne Kartoffeln, über eine Tonne Zwiebeln, mehrere 100 kg Äpfel, ca. 100 kg Bananen, mehrere 100 kg Reis, über 100 Liter Öl, und diverse andere Lebensmittel gekauft und mit den Sachspenden an die Menschen vor Ort verteilt.
Zur Versorgung des größeren Spots „Fabrik“ konnten wir die Unterstützung der Mitarbeiter eines Supermarkts gewinnen. Sie sortierten die Bestellung. Die so zusammengestellten Pakete reichen ca. fünf Tage jeweils für fünf Personen. Ergänzt werden die gemischten Pakete von Großgebinden mit Zwiebeln, Mehl, Kartoffeln und Reis und Kleingebinden mit Obst und Gemüse.
Eine sortierte Busladung -> ca 75 Menschen haben
Lebensmittel für fünf Tage
Wir lieferten aber nicht nur Nahrung und Kleidung. Auch mit Wärme, die zur Erhaltung der grundlegenden Gesundheit von Nöten ist mussten wir uns beschäftigen. Wir verteilten Schlafsäcke, Decken und Zelte sowie Planen zur Abdeckung der Fensterlücken. Außerdem konnten mit unserem Bulli die einheimischen von SOS-Bihac unterstützen und 10 Zeltöfen aus dem Umland der Kleinstadt abholen, transportieren und in Bihac einlagern. SOS-Bihac verteilt die Öfen in den kommenden Wochen.
Uns ist bewusst, dass dies alles nur ein „Tropfen auf den heißen Stein“ ist. Andererseits konnten wir so sicherstellen, dass ca. 350 Personen zwei Wochen lang Nahrungsmittel zur Verfügung hatten. Oder Müllsäcke nutzen konnten um die „Spots“ halbwegs von Unrat zu befreien konnten. Oder nachts und unterwegs weniger frieren mussten. In der Woche konnten wir nicht nur mit SOS-Bihac zusammenarbeiten, sondern auch mit einem Imam, der in Nebengebäuden einer Moschee und der angegliederten Madrassa Geflüchteten Räume zur Verfügung stellt, Kontakt aufnehmen. Wir konnten ihm und einer unter Armut leidenden bosnischen Großfamilie Lebensmittel, Hygieneprodukte und Windeln zur Verfügung stellen.
Aus unseren „privaten Geldbeuteln“ zahlten wir Medikamente für die Frau eines locals, die an Krebs erkrankt ist oder die Zechen bei gemeinsamen Essen.
Mich persönlich haben die locals von SOS-Bihac, der Imam und andere Helfer vor Ort stark beeindruckt. Und die Landschaft der Krajna begeistert.
Begeistert hat mich auch unsere Zusammenarbeit. Ich kannte Irmi, Julie und Bennie vor dem 21.2. nicht persönlich. Leider fand ich keine Zeit, die anderen vor Fahrtbeginn kennenzulernen. Umso schöner ist es für mich gewesen, das Gefühl des Vertrauens und der gemeinsamen Kraft von der ersten Sekunde an gespürt zu haben.
Durch kluge, umfassende Kommunikation und Kompromisswillen von uns allen konnten wir schnell effizient arbeiten und die persönlichen Fähigkeiten und Kenntnisse optimal einsetzen. Täglich saßen wir am Abend zusammen um den vorhergegangenen Tag abzuschließen, zu besprechen und den nächsten zu planen – und haben dabei auch ganz offen über unsere eigenen Grenzen gesprochen. Nur so war es uns möglich, die guten Pläne zu verfolgen und manch schlechten anderen zu verwerfen.
Bewegt von den Begegnungen und Erfahrungen in BiH planen wir zwei weitere Fahrten in unmittelbarer Zukunft, auf die wir uns derzeit intensiv vorbereiten. Ich möchte die großartigen ehrenamtlichen Kräfte um Zlatan Kovacevic und Dirk Planert beim Aufbau und den Tätigkeiten von SOS Bihac unterstützen.
Und hier kommt Ihr ins Spiel. Vielleicht habt Ihr ja Lust mit zu unterstützen… Vieles hilft! Schreibt mir doch bitte eine mail an jonashermes@gmx.de, wenn Ihr interessiert seid und etwas zur weiteren Unterstützung erfahren wollt.
Liebe Grüße an Euch alle – Jonas