HERMINE verschickt Humanitäre Lieferung No. 100

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Die Anfänge unserer Arbeit mit einer Lagerhalle: 5 Palletten nach Samos

Am 20. Februar 2019 haben die ersten 5 Paletten unsere Lagerhalle in der Rotkreuzstraße – eine alte Lederfabrik – verlassen und wurden per Spedition auf die griechische Insel Samos gebracht. Schuhe und Kleidung für Erwachsene und Kinder, außerdem ein paar Kisten Hygieneartikel. 

Samos liegt unweit der westlichen türkischen Grenze und ist daher ein hochfrequentierter Ankunftsort für Geflüchtete, die in die EU gelangen wollen. Schon 2019 bedeutete die Ankunft auf Samos für Geflüchtete aus Afghanistan, Somalia, Syrien und Palästinensischen Gebieten, dass ihre Flucht dort vorerst zu einem unnötig langen und unwürdigen Halt kommt. Das Lager in Vathy, das zur Registrierung der Geflüchteten dienen sollte, war für ca. 700 Menschen ausgelegt. 5.000 Menschen (Stand Januar 2019) mussten jedoch über Wochen, Monate und Jahre im Camp und der Umgebung ihr Überleben arrangieren. Im sogenannten “Jungle” – aus Zelten, Planen und mangelhafter Infrastruktur –, wie das überfüllte Camp genannt wurde. (1) 

Sie leben [...] in Zelten, die oft kaputt sind und nicht ausreichend vor dem Wetter schützen, an einem Platz, welcher der ‘Jungle’ genannt wird. [...] Es gibt weder ausreichend Regenponchos, noch gibt es genug Schuhe oder Socken.

NGO Mitarbeiter*in auf Samos, anonym (2)

Lokale Initiativen entstanden oder haben ihre Arbeitsweise angepasst, um auf diese prekäre Situation reagieren zu können und die Versorgung der Menschen dennoch zu organisieren. Zusätzlich wurde immer mehr Protest laut: Am 7. Februar 2019 forderten auf Samos 2.500 Demonstrant*innen, zusammengesetzt aus Bewohner*innen des Camps und der lokalen Bevölkerung, bessere Bedingungen für die Geflüchteten.

Der ‘Jungle’ existiert heute in dieser Form nicht mehr. Abgeschieden in den Bergen wurde – finanziert mit 43 Millionen Euro Steuergeldern von Bürger*innen der EU – mit dem Closed Controlled Access Centre (CCAC) ein Camp errichtet, das zwar mehr Platz bietet, aber den Bewohner*innen ihre Bewegungsfreiheit raubt und damit nicht nur optisch an eine Haftanstalt erinnert. “Mein Gefühl sagt, dass ich im Gefängnis bin. […] Zu viel Kontrolle, Kameras, manchmal sogar Drohnen.” (3) Die Situation setzt den Menschen noch heute extrem zu, sie leiden psychisch wie physisch unter den Lebensbedingungen und der Aggressivität der Polizei. (4) “Im alten Camp haben wir zwar im Zelt gelebt, aber wir hatten unsere Freiheit.” (5)

Samos Volunteers und Refugee4Refugees, an die wir 2019 die erste Lieferung geschickt haben, gehören zu den Initiativen, die seit dieser Zeit (2016 bzw. 2019) auf Samos aktiv sind. Samos Volunteers bildet mit anderen NGOs eine Gruppe, die politischen Druck ausüben, regelmäßige Forderungen formulieren und die Bedingungen im Camp sichtbarer machen. Hier (6) geht es zu ihrem aktuellen Statement.

Freiwillige auf Samos beim entladen einer Palette, Samos Volunteers 2023

Beide Organisationen haben eine gemeinsame Priorität in ihrer Arbeitsweise: Sie arbeiten mit den betroffenen Communities zusammen und entwickeln ihre Angebote zugeschnitten auf deren Bedürfnisse weiter. Aktuell gehören dazu – neben der Versorgung mit Sachgütern im Umsonstladen  – auch Sprachkurse, Freizeitaktivitäten, psychosoziale Unterstützung, Rechtsberatung und Programme für kommunales Engagement, wie ein kollektiv betriebener Gemüsegarten. (7)

Warum per Spedition liefern?

Warum gehen wir den Weg, Sachspenden per Spedition liefern zu lassen, anstatt persönlich vor Ort zu unterstützen und dabei Sachgüter mitzunehmen?

Es sind die regionalen Initiativen – wie Samos Volunteers auf der griechischen Insel, die mobilen Duschen von Collective Aid entlang der serbischen Grenze zu Rumänien und Kroatien, der Infopoint von progetto20k im italienischen Ventimiglia, das Refugee Women’s Centre im französischen Calais oder die zum Logistikzentrum für Humanitäre Transporte umgewandelten Lagerhallen im ukrainischen Lwiw – welche  die lokalen Strukturen kennen, vor Ortvernetzt sind und wissen, wie die Menschen dort am effektivsten unterstützt werden können.

HERMINE e.V. sieht sich in der Pflicht, eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu fördern und hierfür braucht es einen konstanten Austausch mit den Menschen vor Ort. Nur so können Bedürfnisse sichtbar werden und sich die Zusammenarbeit in die dortigen Strukturen integrieren. Ziel ist es, die Arbeit der Initiativen unmittelbar und langfristig zu erleichtern. Deshalb möchten wir als Verein gleichzeitig eine zuverlässige sowie regelmäßige Unterstützung leisten. Dem können wir gerecht werden, indem wir die Sachgüter in der eigenen Region sammeln und ihre Qualität prüfen, sodass die verschickten Kisten kein zweites Mal sortiert werden müssen. Das spart Kapazitäten und gewährt Planbarkeit, wenn z.B. 4.000 männlich gelesene Personen mit Winterkleidung versorgt werden müssen.

Der Versandprozess wird digitalisiert – Ressourcen geschont

HERMINE Volunteer nimmt per Boxtribute-App frisch sortierte Spenden in die digitale Datenbank auf, HERMINE e.V. 2023

Die Professionalisierung der Prozesse in der Vereinsarbeit ermöglicht eine enorme Schonung der Ressourcen. Dies ist für HERMINE e.V besonders spürbar, seit ein digitales Lagerverwaltungssystem in unsere logistischen Abläufe integriert wurde. Im Februar 2020 wurde es erstmals für die 12. Lieferungen von HERMINE genutzt. Diese 12. Lieferung – die erste unter Verwendung der Boxtribute App – ging an das Joel Nafuma Refugee Center in Rom, Italien. Es war unsere erste Lieferung nach Italien und der Beginn einer anhaltenden Kooperation, die wir sehr schätzen. 

Entwickelt wurde das System von der NGO Boxtribute auf Grundlage der Erfahrungen mit geflüchteten Menschen in Griechenland und den Initiativen, die die Lücken der Verteilungsgerechtigkeit zu schließen versuchten. 

Da diese Open-Source-Software auf die Anwendung durch NGOs ausgerichtet ist, verbessert sie unsere Arbeitsweise enorm: Im Gegensatz zu kommerzieller Software, die von allen Beteiligten hohe zeitliche Ressourcen und spezielles Know-How verlangt, ist der Umgang mit dem Boxtribute-System einfach zu erlernen und deshalb auch für freiwillige Helfer*innen mit wenigen Stunden Einsatz geeignet. Sie ermöglicht es uns, einen Überblick über den Lagerbestand zu wahren und unkompliziert mit den Initiativen entlang der Fluchtrouten zu kommunizieren. Gerade wenn es darum geht, am aktuellen Bedarf orientierte Lieferungen vorzubereiten. 

Geschont werden damit die Kapazitäten derjenigen, die sich entlang der Fluchtrouten täglich für geflüchtete Menschen einsetzen und oftmals unter anhaltendem Stress freiwillig arbeiten. Diese engagierten Menschen tun dies entgegen der Politik der EU und deren Länder, die eine Migrationspolitik von Abschottung und Abschreckung verfolgen; die geflüchteten Menschen durch konkrete Maßnahmen und (unterlassene) Handlungen ihre Menschenrechte systematisch absprechen und verwehren.

Gerade weil es sich um eine Arbeit im Widerstand gegen strukturelle und systematische Diskriminierung handelt, ist es so wichtig, die vorhandenen Ressourcen so schonend wie möglich einzusetzen. Es sind Ressourcen, die eingesetzt werden können, um Solidarität mit geflüchteten Menschen zu leben.

Asyl in Italien? Ein kurzer Rückblick

Im Jahr 2020 wurden in Italien rund 27.000 Asylanträge gestellt. Das sind weit weniger als in den Vor- und Folgejahren. Erklärt werden kann das auch damit, dass seit 2018 das italienische Asylrecht unter dem rechtspopulistischen Innenminister Matteo Salvini (aktuell stellvertretender Regierungschef) zunehmend verschärft und Seenotrettung kriminalisiert wurde. (8) So wurde die Überfahrt gefährlicher, weniger Menschen konnten das italienische Festland erreichen und andere Routen mussten gewählt werden.

Aber auch die Situation für diejenigen, die das Festland bereits erreicht haben, hat sich verschärft. Denn nicht nur wurde das Recht auf Asyl aus humanitären Gründen entzogen, auch sollte “die Zahl der Abschiebezentren erhöht, die der Aufnahmezentren hingegen reduziert werden.” (ebd.)

Für obdachlose Geflüchtete in Rom hält das Joel Nafuma Refugee Center (JNRC) mehrere Angebote bereit – es verfolgt diese Mission seit den 1970ern. JNRC bietet nicht nur Kleidung, sondern auch Workshops, Sprachkurse, Waschmöglichkeiten und weitere Dienstleistungen an. 2020 wurden sie täglich von ca. 250 Menschen in Anspruch genommen.

Gegen Ende 2020 wurde die Kriminalisierung der Seenotrettung durch Italiens Regierung wieder aufgehoben – es wurde anerkannt, “dass es verfassungsrechtliche Pflicht sei, Menschen in Seenot zu retten.” (ebd.) Seit Oktober 2022 gestaltet Italiens rechtspopulistische Ministerpräsidentin Gorgia Meloni die Migrationspolitik jedoch wieder deutlich einschränkender. Die Regierung legt auch der Seenotrettung wieder zunehmend rechtliche Hürden auf, die ihre Arbeit schwierig bis unmöglich machen. Doch die Ursachen für die Flucht verschwinden nicht dadurch, dass die EU eine Migrationspolitik der Abschottung betreibt. Die Menschen fliehen dennoch, dennoch werden sie vertrieben, und über alle Hindernisse hinweg kommen sie weiterhin in die EU.

Weiterhin leistet das JNRC essenzielle Arbeit in Rom, für diejenigen Geflüchteten, die es nach Italien geschafft haben und in die Hauptstadt gelangt sind. Auch heute ist die Obdachlosigkeit unter Geflüchteten eine enorme Herausforderung. Die Versorgung dieser Menschen mit materiellen wie immateriellen Gütern liegt nahezu alleinig in den Händen der lokalen nicht-staatlichen Organisationen. Im Vergleich zu den Jahren vor der Corona-Pandemie ist die Anzahl derer, die von den Angeboten des JNRC profitieren, leicht gestiegen.

Stand September 2023 kamen in diesem Jahr über den Seeweg ca. 115.000 Menschen in Italien an, weit mehr als in den Vorjahren. Entsprechende Strukturen zur Aufnahme gibt es jedoch nicht. Das Erstaufnahme-Camp auf Lampedusa war um das 10-fache überbelegt, sodass im September der Notstand ausgerufen wurde. (9) Auch in den vergangenen Tagen sind in kurzer Zeit über tausend Menschen dort angekommen. (10) Um das überforderte Erstaufnahme-Camp zu entlasten, werden sie in Italien verteilt. 2023 gab es allein in der Hauptstadt über 100 inoffizielle Camps geflüchteter Menschen. Wie viele Menschen dort leben, ist daher laut JNRC kaum einzuschätzen. Sie bevorzugen es, ihre eigenen Camps auf der Straße zu errichten, anstatt die überfüllten, unhygienischen und heruntergekommenen offiziellen Camps zu nutzen. Auch wenn das bedeutet, dass sie jederzeit gewaltvoll durch staatliche Behörden aus den selbst errichteten Lagern vertrieben werden können. (11)

Sachspenden für das JNRC in Rom – unsere Lieferung No. 100

Diese Menschen sind es, für die das JNRC seine Dienstleistungen anbietet. Rechtsberatung, Kunsttherapie und andere Formen der psychosozialen Unterstützung, Computer- und Nähkurse, Sportaktivitäten und verschiedene Projekte im öffentlichen Raum. Zwei Umsonstläden betreibt das Center: der generelle ‘Supply Room’ ist werktags je zwei Stunden geöffnet und dient zur Versorgung mit den nötigsten Kleidungsstücken und Hygieneartikeln für den täglichen Bedarf. Der ‘Women & Children’s Room’ ist nicht nur ein Umsonstladen, der neben Kleidung und Hygieneartikeln auch mit Spielzeug ausgestattet ist. Primär ist dieser Raum als sicherer Ort des Rückzugs und der Gemeinschaft für Frauen* und Kinder eingerichtet – er ist fünf Tage die Woche für vier Stunden geöffnet. 

Zwei Personen stehen in einem kleinen Gewölberaum mit Regalen an den Wänden. In den Regalen befinden sich Schubladen und gefaltete Kleidungsstücke. Im Vordergrund stehen Kisten. Die Personen räumen Schuhe aus den Kisten und in die Regale.
JNRC Volunteers befüllen den Umstonstladen mit gespendeten Schuhen, JNRC 2023

Es ist HERMINE e.V. ein Anliegen, diese so wichtigen Angebote des Refugee Centers mit Sachgütern unterstützen zu können. 12 Lieferungen nach Rom waren es seit der ersten im Jahr 2020: 35 Paletten mit 7,8 Tonnen Sachspenden, die wir Dank zahlreicher Spender*innen, Pat*innen und ehrenamtlich engagierten Menschen im Raum Würzburg sammeln, sortieren und per Spedition verschicken konnten. Am 29. Februar 2024 war es die insgesamt 100te Lieferung, die unsere Lagerhalle verlassen und sich auf den Weg zu einer NGO entlang der Fluchtrouten gemacht hat.

Wie geht es weiter?

Für uns ist diese Lieferung kein Meilenstein, sondern ein Symptom der miserablen Migrationspolitik der EU. Aber es erfüllt uns mit Hoffnung, die Arbeit all der Initiativen zu sehen, die entgegen der Widerstände der Politik durch ganz konkrete Akte der Solidarität einen positiven Unterschied im Leben von Menschen auf der Flucht machen, indem sie sie ermächtigen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Eine Mahlzeit aus selbst angebautem Gemüse, die freie Auswahl der eigenen Kleidung, 

An über 40 Organisationen in 8 europäischen Ländern haben wir mit Stand der 100ten Lieferung Sachgüter geschickt. Organisationen, Kollektive, Zusammenschlüsse engagierter Menschen, mit denen wir Ziele, Forderungen und Visionen teilen: für Menschenrechte, das Wahren der Menschenwürde ohne Diskriminierung, für globale Bewegungsfreiheit und für das Recht auf Asyl. 

Auch in Zukunft werden wir dieses Netzwerk weiter ausbauen und zeitgemäße Wege der Unterstützung finden. Denn darin sehen wir eine ständige Priorität unserer Arbeit.