„Die Würde des Menschen ist antastbar“ 

Am Montag, den 23. Oktober, sind Christian, Julia und ich von der mobilen Flüchtlingshilfe Würzburg mit einer Transporterladung voller Sachspenden in Form von Decken, Schlafsäcke, Isomatten, warmer Kleidung und Hygieneartikeln nach Gorizia, Norditalien aufgebrochen. Alarmiert hatte uns ein Hilfeaufruf nach Sachgütern in einem sozialen Netzwerk. An den Aufruf war ein Bild angehängt, das sich in mein Gedächtnis einbrannte. Es erinnerte mich an die Bilder aus dem menschenunwürdigen Flüchtlingslager Calais, Frankreich. Das Bild zeigt einen Fußgängertunnel in der norditalienischen Kleinstadt Gorizia, nahe der slowenischen Grenze. In diesem Tunnel eng an eine Seite gedrängt sieht man schlafende Menschen, ungefähr 100 an der Zahl. Mit Decken bis weit über den Kopf gezogen liegen sie auf dem kalten, feuchten Steinboden. Es sind geflüchtete Männer, die vornehmlich aus Pakistan und Afghanistan stammen.

In Italien angekommen gewann dieses Bild für uns eine noch erschreckendere Dynamik. Es zeigt sehr deutlich die Ambivalenz verschiedener Lebensrealitäten innerhalb Europas. Auf der einen, „freien“ Seite des Tunnels gehen die EinwohnerInnen Gorizias geschäftig ihrem Alltag nach, spazieren mit Hunden und Einkäufen an den Schlafenden vorbei als wäre die Welt heile und in Ordnung und auf der anderen Seite die geflüchteten Männer, die gezwungenermaßen ihre Lager in dem kargen Tunnel aufgeschlagen haben. Auch hier ist eine Grenze entstanden, sie verläuft einmal mitten durch den gorizianischen Fußgängertunnel. Mag sie dem/der Betracher*in auf den ersten Blick unsichtbar erscheinen, so ist sie bei näherem Hinschauen kaum noch zu übersehen.

In Gorizia stranden laut Angaben der lokalen Freiwilligen am Tag zwischen fünf und zwanzig neue Geflüchtete. Aufgrund der Überfüllung der Lager und der Hoffnung der zuständigen Behörden, dass, wenn man es ihnen so ungemütlich wie möglich mache, sie von alleine wieder verschwänden, schlafen sie notgedrungen bis zu zwei Wochen auf der Straße. Nachdem der Registrierungsprozess bei der lokalen Behörde abgeschlossen ist, werden sie in karge Unterkünfte mit mangelhafter Versorgung verfrachtet.

Doch bis es soweit ist verbringen die Geflüchteten zusammengepfercht wie Tiere die immer kälter werdenden Nächte in einem feuchten, zugigen Tunnel. Es gibt keine Sanitäranlagen, nur das angrenzende Waldstück sorgt notdürftig für Abhilfe. Ihre Freizeit verbringen sie auf einem nahegelegenen Parkplatz oder im Zentrum der Stadt, misstrauisch beäugt von den Einheimischen. Sie sind angewiesen auf die Unterstützung motivierter Freiwilliger, die sich selbst organisieren und alles in ihren Kräften Stehende unternehmen, um die Menschen mit Essen, Tee, Schlafsäcken, warmer Kleidung und Isomatten zu versorgen. Doch auch für die Helfer*innen ist die Situation eine große Herausforderung. Es gibt keine vorhandenen Strukturen, die ihnen ihre Aufgabe erleichtern würden, eher im Gegenteil. Zudem haben sie neben ihrem „Ehrenamt“ noch ein eigenes Leben zu managen. Dies führt dazu, dass die Versorgung zwar eine symbolische und gastfreundliche Wirkung auf die Geflüchteten erzeugt, aber nicht immer alle Bedürfnisse gedeckt werden können.

Über die gemeinnützige Organisation Unimo e.V. aus Passau, die bereits einige Tage vor uns angereist war, erfuhren wir, dass die Zustände in Gorizia kein Einzelfall sind. Sie berichteten uns von der Situation im circa 100 Kilometer nördlicher liegenden Pordenone.

Und so führte uns unsere Versorgungs- und Erkundungsfahrt auch dorthin, denn hier werden ebenfalls Hilfsgüter dringend benötigt. In der 50.000 Einwohner Stadt gibt es allerdings im Gegensatz zu Gorizia keinen zentralen Sammelpunkt, wo die Menschen zusammen und überdacht nächtigen können, sondern ihre Schlafplätze verteilen sich über die gesamte Stadt. Der Registrierungsprozess in Pordenone kann bis zu vier Wochen dauern, solange schlafen die Geflüchteten in notdürftig zusammengebastelten Zelten aus Plastikfolien, Decken und Ästen direkt vor der tristen, grauen Unterkunft auf kaltem Steinboden. Andere übernachten im Stadtpark oder in einem Parkhaus in der sogenannten Bronx. Gabi, Andrea und Lorena sind drei unabhängige Voluntär*innen, denen wir einige Sachspenden übergaben und die uns über die Situation der Geflüchteten in ihrer Stadt aufklärten. Sie zeigten uns die verschiedenen Schlafplätze, einer zugiger, karger und feuchter als der andere. Zudem berichteten sie uns von Schikane durch die lokale Polizei, die zur Erhaltung eines schönen Stadtbildes die Menschen verscheuche und ihnen Schlafsäcke und Decken wegnehme. Lorena erzählte mir auch, dass viele der Afghanen und Pakistaner in die Kriminalität gedrängt würden. Sie halten sich über Wasser durch den Verkauf von Drogen oder durch Prostitution…Trauer, Wut, Empörung, Erschrecken, Verzweiflung, Unglaube breiteten sich in mir aus. „Wir waren doch immer noch innerhalb Europas, gab es da nicht Menschenrechtskonventionen, Grundrechtsschutz und humanitäres Völkerrecht?“ 

Durch Mauro, einen unabhängigen Voluntär, dem wir den dritten Teil unserer Spenden übergaben, gewannen wir zusätzlich tiefere Einblicke in die Situation in den Lagern. Es ist zwar für den Großteil gemeinnütziger Organisationen verboten die Unterkünfte zu betreten, aber das war in Gradisca, circa 10 Kilometer südlich von Gorizia, auch gar nicht notwendig. Dort verlassen die Geflüchteten freiwillig früh am Morgen das Camp, das in einem ehemaligen Militärkomplex untergebracht ist und kehren erst am Abend zum Schlafen dorthin zurück. Ihre Tage verbringen sie im so genannten „Jungle of Gradisca“. Der Jungle befindet sich etwas abseits der Stadt in einem kleinen Waldstück nahe des Isonzo Flusses. Ein ruhiger, beinahe idyllischer Ort, an den sich die Geflüchteten zurückziehen. Hier können sie sich ungestört einen sicheren, selbstorganisierten Raum schaffen. Sie haben eigene Zelte gebaut mit nicht viel mehr als der Wald ihnen zur Verfügung stellt und dort Sitzgelegenheiten, Regale und sogar eine Küche eingerichtet. „In the Camp, the food is always the same, everyday white pasta and nothing else “, berichtete uns ein junger Pakistaner. Der Jungle gibt ihnen die Möglichkeit ihr eigenes Essen und ihren Tee zu kochen, sowie eigenes Brot zu backen. Wir wurden sehr gastfreundlich von den Menschen begrüßt. Trotz, dass wir Fremde waren und sie jeden Grund gehabt hätten misstrauisch zu sein, entstanden lockere Gespräche und uns wurden Chai-Tee und Kekse zum Frühstück angeboten. Nebenbei informierte Mauro uns über die Zustände im Cara Camp, wie beispielsweise, dass es verboten sei Spenden reinzubringen und er sich deswegen Tag für Tag hier mit den Menschen verabredete, um ihnen das Nötigste mitbringen zu können. Sein Engagement beeindruckt uns tief. Es ist schwer die widersprüchlichen Gefühle über diese Parallelwelt in Worte zu fassen. Auf der einen Seite ist es schön zu sehen, wie die Menschen sich ein Stück Autonomie und Würde durch den Jungle von Gradisca zurücknehmen und hier in Gemeinschaft ihre Tage verbringen. Auf der anderen Seite bin ich bestürzt darüber, dass sich auch in der Unterkunft kaum etwas an den Verhältnissen für die Menschen ändert.

Gorizia, Pordenone und Gradisca sind Schauplätze einer europäischen Tragödie. Menschen, die aus Angst vor Tod, Terror, Folter und Krieg ihre Heimatländer, Familien und Freunde zurückließen und ihre Hoffnungen in ein menschenrechtsbejahendes, humanes Europa setzten, werden nun bitter böse von diesem enttäuscht und ihre Flucht findet kein Ende: Denn, was uns sicherlich mit am meisten schockierte, kristallisierte sich erst in den persönlichen Gesprächen mit den Menschen heraus: „Kommt ihr aus Deutschland?“, wurden wir vermehrt gefragt. „Ja, aus Würzburg“, haben wir geantwortet. „Und woher kommst du?“ „Ich komme auch aus Deutschland“, antworteten viele in fehlerfreiem Deutsch. Denn ein Großteil der Jungs, die ihr karges Lager im gorizianischen Tunnel, in der Bronx Pordenones oder im tristen Cara Camp Gradiscas aufgeschlagen haben, sind aus Deutschland geflohen. Darmstadt, Berlin, Trier, München, sind einige der Städte aus denen sie nach Italien aufgebrochen sind. Wir waren total perplex als sie uns ihre persönlichen Geschichten erzählten. Drei, Vier, Sieben oder sogar Neun Jahren hatten einige der Männer bereits in Deutschland gelebt. Sie sprechen fließend Deutsch, hatten Arbeits- beziehungsweise Ausbildungsplätze, eine Wohnung, Freunde und zahlten gewissenhaft ihre Steuern. Man könnte im Volksmund sicherlich von gelungener Integration sprechen, denn die Bundesausländerbeauftragte definiert Integration als „gleichberechtigtes Zusammenleben von kulturell und anderweitig verschiedenen Personen und Gruppen einer Gesellschaft.“ Wir verstanden die Welt nicht mehr. „Habt ihr denn einen Abschiebebescheid erhalten?“, fragten wir die Männer. Einige nickten zustimmend, andere berichteten uns, dass der bloße Gedanken an den Bescheid und dessen gerichtliche Anfechtung, die hohe Kosten fordert, ihnen Angst gemacht hätte und sie deswegen nach Italien gekommen seien. Sie erhoffen sich hier Chancen auf einen Aufenthaltstitel, der ihnen bei der Rückkehr nach Deutschland den Rücken stärken würde. Ob und wie realistisch das ist, darüber fällen wir kein Urteil. Erschreckend ist, dass die bloße Angst vor der Abschiebung die Menschen dazu bringt, ihre Flucht, nachdem ihr Leben sich langsam normalisiert hat und sie anfingen sich wohlzufühlen, wiederaufnehmen zu müssen. Nach alledem, was wir in Italien gehört und gesehen haben, sind wir uns einig: „Die Würde des Menschen ist antastbar“ (Art. 1 Abs.1 S.1 GG, geänderte Fassung 2017).

Es bleibt nur zu hoffen, dass die internationale Öffentlichkeit, die langsam ihren Blick auf die Zustände in Norditalien richtet, die Regierung und Europa zum Handeln zwingt. Es braucht eine solidarische, europäische Union, die abseits der Institutionen allein aus Menschlichkeit handelt.

Verfasserin: Julia Boving