Reisebericht und Interviews aus Nordfrankreich – Calais und Dunkirk

Ein Team Member von HERMINE e.V.  war für eine andere Organisation über die Sommermonate vor Ort in Frankreich. Hier haben wir die Eindrücke und Einblicke aus Gesprächen mit anderen Akteur*innen on the ground gesammelt.

Namen sind anonymisiert.

Wenn man unter permanentem Stress steht, dass einem die Sachen wieder weggenommen werden und man dann [...] noch mal aufs Wasser muss [...] – es [ist] häufig auch das 2. Mal, dass die Menschen auf Boote gehen [...] – gibt es sehr viele physische, aber auch psychische Belastungen [...].

Hanna, 29, Sozialarbeiterin

Als ich mich auf den Weg nach Dunkirk machte, wusste ich nicht genau, was mich dort erwarten sollte. Einerseits habe ich viel über die Humanitäre Krise vor Ort gehört, andererseits bin ich nach Frankreich gefahren – einem sehr wohlhabenden Land in Europa. Wie schlimm kann es also schon sein?

Als ich am ersten Tag im “Camp” ankam, erlebte ich eine Szene, die diese Frage schnell beantwortete. Das Camp in Dunkirk ist kein offizielles. Stattdessen gibt es derzeit ein riesiges schlammiges Feld Gebiet mit spärlich verstreuten Zelten zwischen Bäumen in der Umgebung. Es gibt ca. 10 verteilte kleine Camps mit jeweils 20-30 Zelten, in denen Leute unter katastrophalen Bedingungen leben müssen. Insgesamt leben aktuell etwa 600 Menschen auf der Flucht in der Umgebung von Dunkirk. Genaue Zahlen gibt es aktuell nicht.

Räumungen durch die Polizei kommen häufig vor und gehen oft mit der Zerstörung der wenigen Besitztümer einher, die die Menschen neben ihrem basic shelter zurückgelassen haben. Inklusive Zelten, Schlafsäcken, Decken, Kleidung und anderen Habseligkeiten. Nach den Räumungen gehen die Behörden so weit, den Boden umzugraben, damit es unmöglich wird, dort wieder Zelte aufzubauen.

Wir arbeiten schon lange mit dem Refugee Women’s Centre zusammen, das in Calais seine Basis hat und dort sowie in Dunkirk aktiv ist. Wir haben diesen Kontakt genutzt, um sie zu fragen:

„Die politische Situation in Calais und Dunkirk ist insofern ähnlich, als der französische Staat den Menschen auf der Flucht keinerlei Unterstützung bietet. Die Menschen müssen in provisorischen Lagern oder inoffiziellen Siedlungen leben und der Staat führt ständig Räumungen dieser Orte durch, ohne Alternativen für die Unterbringung zu bieten. Die CRS (französische Nationalpolizei) nimmt auch Organisationen ins Visier, die sich für den Zugang zu Unterkünften, Kleidung, Lebensmitteln und Wasser einsetzen, indem sie die Verteilungsgebiete einschränkt und sehr oft Ausrüstungsgegenstände wie z.B. IBCs (Wasserbehälter) beschädigt oder beschlagnahmt.

Regelmäßige Updates zur politischen Situation sind auf der Instagram-Seite des Calais Appeal zu finden. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von acht Organisationen, die sich in Nordfrankreich für die Verbesserung der Situation von Menschen auf der Flucht einsetzen und sich insbesondere für die Menschenrechte in Calais und Dunkirk einsetzen.” 

~ Einblicke des Refugee Women’s Centre, aktiv in Calais und Dunkirk (deutsche Übersetzung)

“The political situation in both Calais and Dunkirk is similar in the sense that the French state does not provide any support to people on the move. People having to resort to living in make shift camps or informal settlements and in fact the state carries out constant evictions of these sites without providing alternatives for accommodation. The CRS (French national police) also targets organizations working to provide access to shelter, clothing, food and water by limiting the distribution areas and very often damaging/confiscating equipment such as IBCs (containers for water).

For regular updates on the political situation, you can check the Calais Appeal’s Instagram page as this is a collective effort of 8 organizations working in Northern France to improve the situation around people on the move and especially to advocate for human rights in Calais and Dunkirk.” 

~ Insights from the Refugee Women’s Centre active in Calais and Dunkirk (english original)

Unterschiede zwischen Calais und Dunkirk

Auch wenn sich die Situation in Calais und Dunkirk in vielerlei Hinsicht ähnelt, so gibt es doch wichtige Unterschiede. Das betrifft geographische Aspekte, gesellschaftliche und auch strukturelle Umstände der Flucht_Migration.

In Dunkirk beispielsweise sind die sogenannten Camps außerhalb der Stadt im Waldgebiet. Es gibt kaum Berührungspunkte mit der französischen Bevölkerung. Daher kommt es relativ selten zu Räumungen – alle 1 bis 2 Monate. In Calais hingegen sind die Camps überall in der Stadt verteilt. Dort finden deshalb alle 2 bis 3 Tage Räumungen statt.

In Calais ist es möglich, den Ärmelkanal mit LKWs und Booten zu überqueren. In Dunkirk fahren nur Schlauchboote ab, meist jedoch von besserer Qualität.

In beiden Orten befinden sich aktuell etwa gleich viele Migrant*innen (jeweils  ca. 1000) aus unterschiedlichsten Herkunftsländern. Vor allem: Kurdistan, Afghanistan, Türkei, Eritrea, Iran und Somalia.

Ich habe meinen Aufenthalt in Frankreich dafür genutzt, mit mehreren Akteur*innen zu sprechen, die ebenfalls hier vor Ort ‚on the ground‘ aktiv sind. Hier sind die Antworten auf zwei Fragen, die ich Hanna, einer Sozialarbeiterin, gestellt habe:

Die Lebensbedingungen in Nordfrankreich in Dunkirk sind für flüchtende Menschen sehr schwierig. Eigentlich gibt es keinerlei staatliche Unterstützung, alles wird durch private Organisationen geregelt. Wie z.B. die Trinkwasserversorgung, aber auch medizinische Versorgung, Essen, Trinken, Kleidung, aber auch die Verteilung von Zelten. Alles läuft durch private Organisationen, was bedeutet, dass die Menschen darauf angewiesen sind, dass es aber auch für Organisationen eine große Herausforderung ist, die Bedarfe zu decken. Was zusätzlich erschwerend hinzukommt, ist, dass die Polizei regelmäßig die Camps räumt, sodass die Menschen alles verlieren. Also z.B. ihre Zelte, ihre Schlafsäcke oder auch teilweise ihre Kleidung. Das heißt auch, dass die Organisationen das immer und immer wieder neu ausgeben müssen und es deshalb einen sehr hohen Bedarf an  diesen Sachgütern gibt. 

Allgemein bedeutet das natürlich auch für die Menschen, dass sie permanent unter Stress stehen. In Nordfrankreich ist das Wetter häufig ziemlich schlecht, kalt und regnerisch. Und abgesehen von den Wetterbedingungen: wenn man unter permanentem Stress steht, dass einem die Sachen wieder weggenommen werden und man dann natürlich auch noch den Stress hat, dass man noch mal aufs Wasser muss – weil viele Menschen haben ja bereits die EU betreten und jetzt, wo sie sie wieder verlassen, ist es häufig auch das 2. Mal, dass die Menschen auf Boote gehen – d.h. es gibt sehr sehr viele physische, aber auch psychische Belastungen, denen die Menschen ausgesetzt sind.                   

~ Hanna, 29, Sozialarbeiterin (deutsches original)

Living conditions in northern France in Dunkirk are very difficult for people on the move. Actually, there is no state support at all, everything is regulated by private organizations. Such as drinking water supply, but also medical care, food, drinks, clothing, but also the distribution of tents. Everything runs through private organizations, which means that people depend on it, but it is also a big challenge for organizations to meet the needs. What makes it even more difficult is that the police regularly clear the camps, so people lose everything. So, for example, their tents, their sleeping bags, or even their clothes in some cases. That also means that the organizations have to distribute these items over and over again and therefore there is a very high demand for these material goods. 

In general, of course, this also means that people are permanently under stress. In northern France, the weather is often pretty bad, cold and rainy. And apart from the weather conditions: if you are under permanent stress, that your things are taken away from you again and then of course you also have the stress of having to go on the water again – because many people have already entered the EU and now that they are leaving it again, it is often also the 2nd time that people go on boats – i.e. there are very very many physical, but also psychological stresses that people are exposed to.              

 

 

~ Hanna, 29, social worker (english translation)

Hier in Nordfrankreich, Dunkirk trifft man auf die unterschiedlichsten Menschen. Die meisten Menschen kommen aus dem Irak oder aus Afghanistan, viele Menschen kommen aber auch aus Eritrea, aus Äthiopien, aus Somalia, aus dem Südsudan, aus ganz unterschiedlichen Ländern. Die meisten Menschen haben bereits innerhalb der EU gelebt und kommen z.B. aus Deutschland oder Frankreich und haben dort z.B. eine Kettenduldung gehabt oder waren von Abschiebung bedroht. Manche Menschen sind aber auch direkt aus ihren Herkunftsländern geflohen und sind erst seit kurzer Zeit in Frankreich bzw. in der EU. Das bedeutet, man trifft ganz unterschiedliche Menschen. Manche, die schon sehr lange auf der Flucht sind und manche, die erst gerade oder bzw. die letzten 6 Monate ihr Heimatland verlassen haben.                                                                           

~ Hanna, 29, Sozialarbeiterin (german original)

Kettenduldung = Mehrere befristete Duldungen hintereinander, ohne jemals einen sicheren Aufenthaltsstatus erhalten zu haben.

Here in northern France, Dunkirk, you meet all kinds of people. Most people come from Iraq or Afghanistan, but many people also come from Eritrea, from Ethiopia, from Somalia, from South Sudan, from very different countries. Most of the people have already lived within the EU and come from Germany or France, for example, and have had a ‘chain toleration’ (Kettenduldung) there or were threatened with deportation. But some people have also fled directly from their countries of origin and have only been in France or the EU for a short time. This means that you meet very different people. Some who have been on the run for a very long time and some who have just left their home country or have been doing so within the last 6 months.    

~ Hanna, 29, social worker (english translation)

Kettenduldung = Several temporary tolerations in a sequence without ever having been granted a secure residence status.

Neben Hanna habe ich auch mit Ellen gesprochen. Sie ist hier in Dunkirk als Rettungssanitäterin aktiv.

„Im nordfranzösischen Dunkirk gibt es mehrere NGOs, die sich für die vertriebenen Menschen in Dunkirk einsetzen. Ich habe schon einmal für eine Organisation gearbeitet, die Wasser und Ladestationen bereitstellt. Jetzt arbeite ich mit einer medizinischen Organisation zusammen, die jeden Tag vor Ort ist und alle Menschen in Dunkirk medizinisch versorgt. Es gibt viele andere NGOs, die Unterstützung leisten, weil die Regierung sich weigert, [dies zu tun].

Wie funktioniert die Zusammenarbeit?

Wir arbeiten mit verschiedenen NGOs zusammen, die vor Ort sind. Einige leisten Hilfe, indem sie Gegenstände wie Zelte, Schlafsäcke und Kleidung verteilen. Andere versorgen die Menschen im großen Stil mit Wasser, indem sie auf Wassertanks zurückgreifen, die ca. 1000 Liter fassen (IBCs). Dann gibt es weitere Organisationen, die warmes Essen bereitstellen und unabhängige Einzelpersonen, die ebenfalls vor Ort sind und Lebensmittelpakete bereitstellen. Gemeinsam können wir vor Ort gut arbeiten. Es ist nur wirklich eine Schande, dass die Regierung keine Hilfe leistet. Der Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen ist ein grundlegendes Menschenrecht und sollte bereitgestellt werden.“

~ Ellen, 25, Rettungssanitäterin

„Around Northern France in Dunkirk there are multiple NGOs that work within Dunkirk for the displaced people here. I have previously worked for one organization that provided water and charging facilities. I am now working with a medical organization who are on site every day providing medical care for everyone in Dunkirk. There are a lot of other NGOs providing support because the government refuses to [do so].

How does the cooperation work

We work alongside different NGOs that come to the site. Some provide aid in terms of distributing items such as tents, sleeping bags and clothing. Others provide water through mass distribution of IBCs (water tanks) . Then you have further organizations that provide hot food, smaller independent individuals might come on site also and provide food packages. Together we do work well on site. It’s just a real shame that the government doesn’t provide any aid. Access to safe water and sanitation is a basic human right and should be provided.“

 

 

Ellen, 25, paramedic (english original)

Das war der erste Teil der Einblicke, die ich hier sammeln konnten. Wir haben bereits gehört, dass in Calais und Dunkirk zahlreiche NGOs aktiv sind. Bei einigen besteht schon eine langjährige Zusammenarbeit, manche haben wir erst durch diesen Aufenthalt kennengelernt.

Diese NGOs wollen wir Euch in unserem nächsten Blog vorstellen.